Johanna Sebus

 

Mit diesem Gedicht hat es eine besondere Bewandtnis. Es stammt einerseits von meinem Lieblingsdichter Johann Wolfgang von Goethe- aber was wichtiger ist als das- ich bekam das Buch, aus dem das Gedicht stammt, von meiner Oma geschenkt- es war das letzte Geschenk an mich vor ihrem Tod 2021. Ich habe das Buch heute in der Hand gehabt und das erste mal gewagt, es zu öffnen. Es hat einen roten, festen Einband und goldene Schrift sowie ein Konterfei des Dichters auf dem Buchdeckel. Ich habe mir heute vorgenommen, das erste Gedicht zu posten, das ich aufschlage- hier kommt es:

 

Johanna Sebus

 

Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,

Die Fluten spülen, die Fläche saust.

"Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,

Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut." –

"Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,

Die Hausgenossin, drei arme Kind!

Die schwache Frau! . . . Du gehst davon!" –

Sie trägt die Mutter durch das Wasser schon.

"Zum Bühle, da rettet euch! Harret derweil;

Gleich kehr' ich zurück, uns allen ist Heil.

Zum Bühl ists noch trocken und wenige Schritt;

Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!"

 

Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,

Die Fluten wühlen, die Fläche saust.

Sie setzt die Mutter auf sichres Land,

Schön Suschen, gleich wieder zur Flut gewandt.

"Wohin? Wohin? Die Breite schwoll,

Des Wassers ist hüben und drüben voll.

Verwegen ins Tiefe willst du hinein!" –

"Sie sollen und müssen gerettet sein!"

 

Der Damm verschwindet, die Welle braust,

Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.

Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,

Umströmt auch, gleitet sie nicht vom Weg,

Erreicht den Bühl und die Nachbarin;

Doch der und den Kindern kein Gewinn!

 

Der Damm verschwand, ein Meer erbraust's,

Den kleinen Hügel im Kreis umsaust's.

Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund

Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;

Das Horn der Ziege fasst das ein',

So sollten sie alle verloren sein!

Schön Suschen steht noch strack und gut:

Wer rettet das junge, das edelste Blut!

Schön Suschen steht noch wie ein Stern;

Doch alle Werber sind alle fern.

Rings um sie her ist Wasserbahn,

Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.

Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,

Dann nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.

 

Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort

Bezeichnet ein Baum, ein Turn den Ort.

Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;

Doch Suschens Bild schwebt überall. –

Das Wasser sinkt, das Land erscheint,

Und überall wird schön Suschen beweint. –

Und dem sei, wer's nicht singt und sagt,

Im Leben und Tod nicht nachgefragt!


Zum Verständnis:

 

Johanna Sebus hat es wirklich gegeben. Sie konnte während einer Flut zunächst ihre Mutter retten, kam aber dann bei der Rettung ihrer Nachbarin und deren drei Kindern ums Leben. Von ihrem dramatischen Schicksal berührt, schrieb Goethe im Mai 1809 die Ballade, kurze Zeit nach ihrem Tod. 

 

 

Das Buch heißt:

Johann Wolfgang von Goethe, Gesammelte Werke: Die Gedichte.

2015 in Anaconda Verlag erschienen und in Leinen gebunden und mit goldener Schriftprägung.

 

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